„Lässt sich Ihr Learning Management System an unsere besonderen Unternehmensanforderungen anpassen?“ In der Regel ist die Antwort: „Ja!“. Doch sind diese Anpassungen für Sie dann auch eine gute Lösung oder fangen Ihre Probleme damit erst an? Der folgende Artikel gibt Ihnen anhand von Beispielen konkrete Anhaltspunkte, wie Sie die richtige Entscheidung treffen.
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Ein fast perfektes LMS
Die Durchstart GmbH hat sich bei der Auswahl eines LMS viel Mühe gegeben. Sie haben Anforderungen definiert und eine Ausschreibung auf der Grundlage des Anforderungskatalogs durchgeführt. Eine Anzahl von LMS konnte identifiziert werden, die die meisten dieser Anforderungen erfüllen. Aber eben doch nicht alle. Bei den drei Anbietern, die es in die engere Wahl geschafft haben, gibt es jeweils mindestens eine große Lücke im Standard-Funktionsumfang.
Das scheint jedoch kein Problem zu sein, denn alle drei Anbieter haben zugesagt, dass sie die jeweils fehlenden Funktionen im Rahmen der Implementierung bei der Durchstart GmbH durch „Customizing“ in ihr LMS „nachrüsten“ können. „Klingt gut“, denkt der Projektleiter, „doch für welches LMS soll ich mich jetzt entscheiden?“. Wenn alle LMS nach Customizing alles können, welches ist dann das richtige für uns?
Bei den Systemen wurden folgende Lücken identifiziert:
- Anbieter A: Dieses LMS bietet im Prozess der Seminarbuchung eine große Anzahl fester eMail-Benachrichtigungen an. Es gibt aber keine Möglichkeit zur Nutzung weiterer Benachrichtigungen zu anderen Anlässen. Programmierung und Einbindung dieser Funktion würde zusätzlich 6.500 € kosten.
- Anbieter B: Das LMS hat keine Schnittstelle zu dem von Durchstart genutzten Web-Meeting-System und kann bei der Planung eines Live-Online-Trainings den Meetingraum in dem Web-Meeting-System nicht automatisch belegen. Die Bereitstellung dieser Schnittstelle würde zusätzlich 8.000 € kosten.
- Anbieter C: Hat beide oben genannten Funktionen nicht im Standard. Die Bereitstellung würde bei Anbieter C nur insgesamt 4.000 € zusätzlich kosten.
Beide Funktionen sind in der Anforderungsdefinition als sehr wichtig bewertet. Alle Anbieter können sie nach Customizing anbieten. Welcher Anbieter ist der Richtige? Der günstigste Anbieter C oder einer der beiden anderen, die jeweils nur eine Funktion customizen müssen? Das ist nicht einfach zu beantworten und stellt die zentrale Frage nach dem …
Wohl und Wehe des Customizing
Wohl:Nach dem Customizing stehen alle gewünschten Funktionen vollständig zur Verfügung, Das hilft allen Benutzer bei der täglichen Arbeit und verbessert die Akzeptanz bei der Einführung.
Wehe: Wie überall, wo Standards verlassen werden, entstehen Risiken. Nachfolgend zeigen wir Ihnen sechs Risiken von Customizing, die wir in der Praxis häufiger beobachten können:
- Nachträgliche Unmöglichkeit: Wider Erwarten ist es doch nicht möglich, die gewünschten Funktionen wirklich vollständig und reibungslos einzupassen.Beispiel: Das bei der Durchstart GmbH genutzte Virtual Classroom System bietet keine Möglichkeit zur Programmierung einer externen Schnittstelle an.
- Kostensteigerung in der Konzeptionsphase: Im Verlauf des Customizings zeigt sich, dass deutlich mehr Anpassungen nötig sind als erwartet.Beispiel: Die Anzahl und Anlässe für automatische Benachrichtigungen an Seminarteilnehmer sind nach Klärung der Details bei Durchstart so umfangreich, dass der Anbieter deutlich höhere Kosten abrechnen möchte.
- Risiken durch unbeabsichtigte Seiteneffekte: Die Funktionen lassen sich integrieren, doch es treten Seiteneffekte auf, die vorher nicht bekannt und nachher nicht mehr zu beheben sind.Beispiel: Für das Einrichten von speziellen Benachrichtigungen muss im LMS eine neue Rolle (interner Übernachtungsmanager) angelegt werden, der auch besondere Berechtigungen und manuelle Eingriffsmöglichkeiten in das System erhält.Das muss für alle Benachrichtigungen eingestellt bzw, programmiert werden. Im Testing stellt sich später heraus, dass durch diese Anpassung nun die wichtige automatische Zuweisung von Teilnehmern zu Kursen nicht mehr funktioniert.
- Unzureichender Komfort der Gesamtlösung: Der Komfort der angepassten Bereiche bleibt oft hinter dem Qualitätslevel zurück, mit dem das LMS ansonsten überzeugt hat.Beispiel: Der komfortable Editor für Standard-Benachrichtigungen kann für die neuen Benachrichtigungen leider nicht genutzt werden. Stattdessen muss die Durchstart GmbH sie selbst im HTML-Format erstellen und über eine Upload-Funktion einbinden. Diese technisch schwierige Lösung kann nur von einer speziell ausgebildeten Person bei Durchstart bedient werden.
- Mehrfacher Aufwand und Kosten bei Upgrades: Die angepassten Funktionen sind nicht updatefähig und müssen nach jedem Update neu implementiert werden, was wieder Kosten verursacht, Zeit braucht und Risiken für die Kompatibilität birgt.Beispiel: Die speziell programmierte Schnittstelle zum Web-Meeting System muss nach dem Upgrade des LMS noch einmal ganz neu konzipiert und implementiert werden, weil sich die technische Basis für Schnittstellen verändert hat
- Dauerhaftes Kostenrisiko für angepasste Bereiche. Zahlreiche Anbieter kalkulieren für ein Customizing nicht nur einmalige Kosten, sondern auch Kosten für die Systempflege dieser Anpassungen in der Betriebsphase. Es könnte also sein, dass bei einer Anpassung des Systems um 10% auch monatlich um 10% höhere Betriebs- und Wartungskosten entstehen.
Customizing ist nicht gleich Customzing
Ob Customizing sinnvoll ist, ist aber keine Grundsatzentscheidung. Ausschlaggebend ist die Art der gewünschten Anpassungen:
- Anpassung des LMS in Randbereichen: Geht es um die Realisierung von Schnittstellen zu anderen Systemen, um die Anpassung der Bildschirmgestaltung oder um die Automatisierung von Funktionen z.B. im Reporting – und damit um Oberflächenanpassungen? Dann kann der Nutzen durch bessere Usability den Aufwand des Customizings durchaus mehr als aufwiegen.
- Anpassung des LMS in Kernbereichen: Sollen Kernprozesse des LMS, wie die Seminaradministration, die Buchungsprozesse oder Benachrichtigungsprozesse nicht nur konfiguriert sondern richtig verändert werden? Dann sind in der Regel Anpassungen in der Struktur des LMS notwendig. Damit nehmen Sie unter Umständen hohe Risiken im Bereich der Funktionsfähigkeit, der Usability und der Kosten in Kauf.
Customizing im Randbereich des LMS | Customizing im Kernbereich des LMS |
In der Regel machbar, finanzierbar und sinnvoll.
Beispiele: |
In der Regel riskant, teuer und nicht sinnvoll.
Beispiele: |
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Fazit
Der Durchstart GmbH wäre also am ehesten zur teuersten Lösung B zu raten. Hier muss nur der Randbereich des LMS angepasst werden. Alle anderen Anforderungen werden ohne Anpassungen erfüllt.
Und bei Ihnen? Gibt es sehr spezielle Funktionen, die für Ihr Learning Management System notwendig sind? Und ein hohes Risiko einzugehen, ist keine Option für Sie? Dann vermeiden Sie Customizing so gut es eben geht:
Erstellen Sie vor der eigentlichen Auswahl des LMS einen detaillierten Anforderungskatalog, der genau beschreibt, welche Prozesse in dem LMS abgebildet werden sollen: in Hinblick auf Kurskataloge, Content-Management, Veranstaltungsmanagement, Usermanagement, Collaboration, Social Media, Reporting und Lernhistorie, ggf. Skill- und Talent-Management und vielleicht noch in weiteren für Sie relevanten Funktionsbereichen. Unterscheiden Sie sehr genau zwischen „Must Have“-und „Nice-to-Have“-Kriterien und gewichten Sie Ihre Kategorien und Kriterien sorgfältig.
Ihre Wahl fällt so vermutlich nicht auf das LMS, das in der Standardausführung den niedrigsten Preis hat. Ihre Wahl fällt auf ein LMS, das unter Abwägen der benötigten Funktionen in Relation zu den anfallenden Kosten und möglichen Risiken eines ggf. notwendigen Customizings die beste Option ist.
Im Zweifel entscheiden Sie sich für das LMS, bei dem alle wirklich benötigten Funktionen schon im Standard enthalten sind und verzichten, wenn irgend möglich, auf die zusätzlichen Wunschfunktionen. So vermeiden Sie die dargestellten Risiken und Folgekosten von Customizing bestmöglich.
Dieser Artikel wurde in leicht veränderter Form im E-Learning Journal veröffentlicht.
Bild-Credits: royalty free, CC BY 2.0
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